NullNUMMER by Umberto Eco

NullNUMMER by Umberto Eco

Autor:Umberto Eco [Eco, Umberto]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2015-11-14T16:00:00+00:00


X

Sonntag, 3. Mai

Braggadocio war verrückt. Aber das Beste sollte noch kommen, und so musste ich warten. Seine Geschichte war vielleicht erfunden, aber sie war packend. Wir würden ja sehen.

Allerdings, verrückt hin, verrückt her, ich hatte den angeblichen Autismus von Maia nicht vergessen. Ich sagte mir, ich wolle ihre Psyche besser studieren, aber jetzt weiß ich, was ich wirklich wollte. An jenem Abend hatte ich sie wieder nach Hause gebracht, war aber nicht am Toreingang stehengeblieben, sondern ging mit ihr durch den Hof. Dort stand unter einem kleinen Vordach ein ziemlich klappriger roter Fiat 500. »Das ist mein Jaguar«, sagte Maia. »Er ist fast zwanzig Jahre alt, aber er fährt noch, ich muss ihn nur einmal jährlich durchsehen lassen, und hier gibt es eine Werkstatt, wo sie noch die alten Ersatzteile haben. Um ihn wieder richtig auf Trab zu bringen, bräuchte ich einen Haufen Geld, aber dann wird er ein Oldtimer und lässt sich zu Liebhaberpreisen verkaufen. Ich benutze ihn nur, um an den Lago d’Orta zu fahren. Du weißt das nicht, aber ich bin eine Erbin. Meine Großmutter hat mir ein Häuschen dort auf den Hügeln hinterlassen, kaum mehr als eine Hütte, ein Verkauf würde nicht viel einbringen, aber ich habe es nach und nach eingerichtet, es hat einen Kamin, einen alten Fernseher, noch in Schwarzweiß, und aus dem Fenster sieht man auf den See und die Insel San Giulio. Es ist mein Buen retiro, ich verbringe dort fast jedes Wochenende. Wie wär’s, hast du nicht Lust, am Sonntag mitzukommen? Wir fahren morgens los, ich mache uns mittags ein kleines Essen – ich koche nicht schlecht –, und zum Abendessen sind wir wieder in Mailand.«

Am Sonntagmorgen während der Fahrt sagte Maia, die am Steuer saß, an einem bestimmten Punkt: »Hast du gesehen? Jetzt verfällt es, aber vor ein paar Jahren strahlte es noch in herrlichem Ziegelrot.«

»Was?«

»Na, das Kantonshaus, das war doch eben links.«

»Also hör mal, wenn das links war, dann hast doch nur du das sehen können, ich sehe von hier aus nur, was rechts ist. In dieser winzigen Kutsche müsste ich, um zu sehen, was links von dir ist, mich an dir vorbeibeugen und den Kopf aus dem Fenster recken. Also wirklich, ist dir nicht klar, dass ich dieses Haus gar nicht sehen konnte?«

»Mag sein«, sagte sie nur, als sei ich ein Spinner.

An diesem Punkt musste ich ihr zu verstehen geben, was ihr meines Erachtens fehlte.

»Ach geh«, antwortete sie lachend, »das kommt bloß daher, dass ich dich inzwischen als meinen Beschützer empfinde und vor lauter Vertrauen zu dir denke, dass du immer dasselbe denkst wie ich.«

Ich war ziemlich verwirrt. Ich wollte wirklich nicht, dass sie dachte, ich dächte immer dasselbe wie sie. Das wäre mir zu intim gewesen.

Aber zugleich überkam mich eine gewisse Zärtlichkeit. Maia kam mir so wehrlos vor, so schutzlos, dass sie sich in eine eigene Innenwelt zurückzog, ohne sehen zu wollen, was in der Welt draußen vorging, von der sie vielleicht verletzt worden war. Und doch, wenn das stimmte, war ich es, dem sie vertraute, und



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